Als ich in Trattenbach, NÖ in einer Art metaphysischen Hochgefühls den Wittgensteinweg gegangen bin, sich extra für mich das Wittgenstein-Museum geöffet hat und ich in Otterthal in eben jenem Gasthaus zur Post gespeist habe, wo bereits Ludwig Wittgenstein als Volksschullehrer zu Mittag aß.

When I walked the Wittgenstein trail in Trattenbach, Lower Austria in an exhilaration of metaphysical spirituality, the Wittgenstein Museum was opened especially for me and I dined in Otterthal in a certain Gasthaus zur Post, where Ludwig Wittgenstein used to have lunch while working as an elementary school teacher in that small village.

Trattenbach Panorama
Trattenbach Panorama

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Aufgestanden bin ich erneut gegen 6:30 Uhr, doch das Frühstück habe ich beinahe komplett ausfallen lassen – bis auf zwei Croissants, eine Mandarine und einen Kaffee. Denn mein Startzug in Richtung Trattenbach fuhr bereits 8:25 Uhr, und bis zum Wiener Hauptbahnhof benötigte der Bus etwa fünfundzwanzig Minuten.

Meine Fahrt mit dem RailJet in Richtung Lienz begann im Nebel – im wahrsten Sinne. Bis Wiener Neustadt hatte es sich noch nicht aufgeklart. Doch in der Regionalbahn nach Aspang war die Düsternis mit einem Mal verschwunden. Ab besagtem Aspang ging es ausschließlich per Bus weiter, nach Kirchberg am Wechsel, wo sich das Wittgenstein-Zentrum befindet samt Konferenzhaus. Am dortigen Gemeindehaus befand sich ein Anschlag mit Ankündigung zur jährlichen Wittgenstein-Konferenz für das kommende Jahr 2018 im August. Auch mit dabei: Heinrich Wansing, der noch immer in Bochum sitzt, dem ich dort bereits über den Weg gelaufen bin, als ich da Dozent war und bei dem ich zuvor in Dresden eine Teilprüfung meiner Zwischenprüfung in Philosophie abgelegt hatte.

Die Welt ist zuweilen klein oder wenigstens bisweilen eine Nische.

Ein kleines Büchlein zu Wittgenstein als Volksschullehrer in dieser Gegend hat mich elf Euro gekostet, doch es sieht so aus, als würde das nur noch in diesem Landstrich verfügbar sein (wie ich später festgestellt habe, ist das Buch zumindest bei Amazon vergriffen und wird dort auch nicht gebraucht angeboten; im übrigen hatte ich es beinahe ausgelesen, als ich abends in Wien wieder aus dem Zug gestiegen bin). Ein hübsches Faltblatt mit Ente-Hasen und einigen Photos / Bemerkungen zu den Ausstellungen in Kirchberg am Wechsel und Trattenbach werde ich hoffentlich heil nach Hause bringen, um es meinem Wittgenstein-Heft hinzufügen zu können (ich habe!).

Volksschule in Trattenbach
Volksschule in Trattenbach
Wittgensteins erste Station als Volksschullehrer (1920-22)
Nach ein paar weiteren Minuten des Wartens befand ich mich schließlich im letzten Bus nach Trattenbach. Als ich dort aussteigen wollte und mich der Busfahrer das fragte: „Hier woll’n’S aussteigen?“, klang das beinahe so, als sei das etwas durch und durch Ungewöhnliches, ja, gar Irrsinniges, etwas, das sonst nie jemand macht. In der Tat war außer mir kein weiterer Tourist zu sehen. Aber, ja, ich wollte. Und weil mich Trattenbach in blendendem Sonnenschein empfing, begab ich mich sogleich zu Fuß auf den Wittgensteinweg, der direkt hinter dem Gemeindehaus beginnt.

Volksschule in Otterthal
Volksschule in Otterthal
Wittgensteins letzte Station als Volksschullehrer (1924-26)
Der glaubhaften Legende nach sollte Wittgensteins erste Station als Volksschullehrer eigentlich in Maria Schutz liegen. Doch das war ihm nicht ländlich genug. Ein Springbrunnen existierte und ein viel zu schöner Park. Also ersuchte er beim dortigen Schulleiter um eine Alternative, der ihm aufgrund seiner Anforderungen Trattenbach empfahl. Also nahm Wittgenstein den nächsten Weg über den Berg, etwa zwei Stunden beschwerlichen Fußmarsches, auf sich, um über eben jenen bergigen Pfad, der heute Teil des Wittgensteinwegs ist, dem kleinen Ort seine Aufwartung zu machen. Später ging er den Weg ab und an in umgekehrter Richtung zur sogenannten Traht-Bäuerin, um dort zu Mittag zu essen oder Milch zu holen.

Wittgensteinweg Trattenbach
Wittgensteinweg Trattenbach
Und dieser Weg kann einfach nur als wunderbar bezeichnet werden. Vielleicht wegen des Wetters, vielleicht wegen der vom Herbst bunt gefärbten Blätter, vielleicht wegen der irgendwie spürbaren Anwesenheit des Wittgenstein’schen Geistes, repräsentiert durch Zitate am Wegesrand – diesen Weg habe ich an diesem Tag, noch während des Gehens, zu meinem Lieblingswanderweg erklärt. Es hat etwas metaphysisches an sich, während des Gehens in dieser unberührt scheinenden, menschenleeren Natur ab und an ein Zitat Wittgensteins aus dem Tractatus zu lesen – insgesamt sechzehn sind am Wegesrand als Schilder mit weißer Schrift auf grünem Grund aufgestellt – und den Gedanken, die sich dabei automatisch entwickeln, bis zum nächsten Zitat / Schild nachzuspüren.

Wittgensteinweg Trattenbach
Wittgensteinweg Trattenbach
Das ist eine beinahe religiöse Erfahrung, weshalb ich alle Zitate in der richtigen Reihenfolge des Weges nachfolgend niederschreibe, um das alles später nochmals verarbeiten zu können (vielleicht in einer philosophischen Abhandlung):

  1. 6.4311 – Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.
  2. 3.03 – Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch denken müssten.
  3. 6.4321 – Die Tatsachen gehören aber nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung.
  4. 7 – Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
  5. 4.001 – Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache.
  6. 6.43 – Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.
  7. 6.375 – Wie es nur eine logische Notwendigkeit gibt, so gibt es auch nur eine logische Unmöglichkeit.
  8. 13.8.1916 – Nur das Leben ist glücklich, welches auf die Annehmlichkeiten der Welt verzichten kann.
  9. 6.4311 – Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.
  10. 6.44 – Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.
  11. 2.9.1916 – Was geht mich die Geschichte an? Meine Welt ist die Erste und Einzige. Ich will berichten wie ich die Welt vorfand. Ich habe die Welt zu beurteilen, die Dinge zu messen.
  12. 5.621 – Die Welt und das Leben sind Eins.
  13. 8.7.1916 – Gott ist es wichtig zu sagen [Gewiß ist es richtig zu sagen]: Das Gewissen ist die Stimme Gottes.
  14. 6.51 – Denn Zweifel kann nur bestehen wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.
  15. 3.1 – Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.
  16. 6.4311 – Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.

Wittgensteinweg Trattenbach
Wittgensteinweg Trattenbach
Wittgensteinweg Trattenbach
Wittgensteinweg Trattenbach
Völlig allein war ich bei meiner Wanderung allerdings nicht, denn irgendwann – bei dem ersten kleinen Kirchlein, bei dem ich gerastet bin – hielt ein Auto bei mir und ich wechselte ein paar Worte mit einem älteren Herrn, der dem Wagen entstiegen war. Als er mir später noch einmal entgegen kam, grüßten wir uns bereits. Zudem wehten Sägegeräusche den Berg hinauf, doch das tat dem einsamen Wandern keinen Abbruch. Im Gegenteil trug es zusätzlich zur ländlich-romantischen Atmosphäre bei.

Der Rückweg führte wieder nach unten zur Straße und nach Trattenbach hinein, wo ich beinahe pünktlich 13:30 Uhr ins ortsansässige Wittgensteinmuseum mit der Dauerausstellung „Ludwig Wittgenstein UND Trattenbach“ vorgelassen wurde. Das sogenannte SchachnerStüberl war Wittgensteins erste Unterkunft als Volksschullehrer in Trattenbach, gelegen direkt neben dem mittlerweile stark verfallenen Gasthaus „Zum braunen Hirschen“. Doch unmittelbar neben seiner Schlafstube existierte ein Tanzsaal, so daß Wittgenstein schnell das Weite suchte. Insgesamt bewohnte er in seinen zwei Schuljahren in Trattenbach vier Unterkünfte. Irgendwas war immer.

Wittgensteins Bett Wittgenstein Museum Trattenbach
Wittgensteins Bett
Wittgenstein Museum Trattenbach
Die Prunkstücke des Museums sind Wittgensteins Bett, das er selbst entworfen hat und extra für sich bauen ließ, weil ihm alle sonst erwerbbaren Betten nicht schlicht genug waren, sowie das Katzenskelett, das er eigenhändig präpariert hat. Die Frau von der Gemeindeverwaltung war äußerst zuvorkommend, und sie meinte, daß zu den jährlichen Symposien die Tagungsteilnehmer auch stets das Museum besuchen würden. Das gehört da zum festen Programm. Es sei in der sonst recht verschlafenden Gegend dann sehr voll.

Wittgensteins Milchflasche oder Wasserflasche
Wittgensteins Milchflasche oder Wasserflasche
Schließlich habe ich im hiesigen SPAR-Markt noch vier Karten von Trattenbach / Wittgenstein (die einzig verfügbare) gekauft, in der kleinen Kirche, die äußerst geschmackvoll zum Erntedankfest eingerichtet war, eine Kerze entzündet und bin schließlich mit dem Bus nach Otterthal gefahren.

Im Nachbarort von Trattenbach war Ludwig Wittgenstein ebenfalls als Lehrer tätig – ganz am Schluß, von wo er letztlich seinen Abschied vom Volksschullehrerdasein genommen hat, nachdem einer seiner Schüler nach einer Ohrfeige seinerseits bewußtlos geworden war.

Am Gasthaus zur Post / Rottensteiner, wo Wittgenstein einst – wie alle Volksschullehrer des Ortes – zu Mittag gegessen hat, habe ich mir einen Kaffee mit einem Stück Mandelkuchen gegönnt und die Wartezeit bis zum Anschlußbus nach Gloggnitz verkürzt. Von dort ging es nonstop mit dem Zug zurück nach Wien – und damit auch zurück in die trubelhafte Großstadt, wo ich von neuerlichen Anschlägen in Afghanistan erfahren mußte.

Diese ländlichen Verhältnisse sind zuweilen gar nicht schlecht.

English Synopsis

This day was all about Ludwig Wittgenstein and his – sometimes so-called: lost – life as a teacher in the very rural landscape of lower Austria. It’s no easy way to get there. From Vienna I had to take two trains and two coaches. But it was kind of fun to get to know the country and its people.

At my arrival in Trattenbach, first station of Wittgenstein as a primary school teacher, first I did was walking the Wittgenstein trail. It’s a one and a half hour round course with its first part up through the woods being the way Wittgenstein took to get his lunch or milk back in the days. The second part leads you back into Trattenbach along the road and the small river Wechsel.

Entering Trattenbach on the Wittgenstein trail
Entering Trattenbach on the Wittgenstein trail
To put it simple: it was beautiful and an almost religious experience. Because there are sixteen quotes from Wittgenstein’s Tractatus logico-philosophicus and diary from his time as a soldier in the First World War standing as signs along the trail. Together with the plain beauty of Autumn woods and the trail itself, it was an interesting thinking process that gets its own page on my blog to make up my mind about everything I experienced there. Also: there were no other tourists / visitors. It was just me, the nature and Wittgenstein’s ghost.

With a little break in nearby village Otterthal, the place where Ludwig Wittgenstein ended his career as an elementary teacher, I then went back to Vienna with quotes and pictures and ideas in my mind that won’t leave me forever. What a great experience!

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